Als das Team vom Waldmuseum im Herbst 2019 den Aufruf an die Glaskünstler*innen in die Welt geschickt hat, war nicht absehbar, dass das erdachte Thema im Laufe des Jahres 2020 durch die Ausbreitung des Coronavirus um eine aktuelle Ebene erweitert werden würde. Das Reisen, beziehungsweise nicht reisen dürfen ist neben all den dramatischen Folgen, die die Pandemie mit sich bringt, zu einem polarisierenden Thema geworden.
Eine auf der Hand liegende Assoziationskette führt so zu Gedanken rund ums Reisen, Mobilität und zu den Abenteuern des Gentleman Phileas Fogg und seines Dieners Passepartout. Aber so eng gesteckt war die Aufgabe in der Ausschreibung nicht, denn die Glasschaffen- den wurden vor allem dazu aufgerufen ihre persönlichen (Reise-) Geschichten zu erzählen, sich mit der Kultur, den unterschiedlichen Traditionen und der Geschichte ihrer Heimat oder in der Welt zu befassen, dies in Glas umzusetzen und ihre Werke für 80 Tage ins Waldmuseum zu bringen. Als im März 2020 die Objekte eingereicht wurden und die Jury darüber entschieden hatte, wurde deutlich, dass das Motto „In 80 Tagen um die Welt“ die Glaskünstler*innen dazu inspiriert hat sowohl von sich selbst, als auch davon, was alle Lebewesen auf dem Planeten Erde betrifft, verbindet oder trennt und die Welt 2020 bewegt, zu erzählen. Anhand der eingereichten Werke haben sich sechs thematische Gruppierungen ergeben, die wir Kuratorinnen so nicht unbedingt erwartet hätten. Ein Großteil der Werke befasst sich nämlich auf individuelle Arten und Weisen mit den Sonnen- und Schattenseiten der Globalisierung, Mobilität, Fernreisen, Internationalität und Vernetzung auf der einen, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Migration und Flucht auf der anderen Seite. Andere Künstlerinnen zeigen, dass man nicht unterwegs sein muss, um seine Gedanken auf Zeit-Reisen in die Vergangenheit, durch das Leben oder in die Zukunft zu schicken. Die Objekte eröffnen neue, aktuelle Sichtweisen und die Künstler*innen haben tatsächlich einen kleinen Teil ihrer eigenen Welt und ihrer einzigartigen Geschichten nach Zwiesel gebracht.
Der Rundgang in der diesjährigen Glaskunstausstellung folgt der thematischen Reiseroute, die die Glaskünstler*innen durch ihre Werke vorgegeben haben. Im Folgenden werden diese sechs Facetten, bzw. REISE-ARTEN näher vorgestellt.
„Eine Welt - wegschauen macht blind gegenüber Natur & Mensch“ schreibt der Glaskünstler Jörg Kulow zu seinem Objekt „deadly blindness“ (Nr. 54). Dass die Menschen in den letzten Jahrhunderten Teile der Natur unwiederbringlich zerstört haben zeigen die Zahlen auf den Roten Listen der bedrohten Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN): Über 30.000 vom Aussterben bedrohte Tier- und Planzenarten belegen den Niedergang der biologischen Vielfalt. Aber nicht nur das: das gesamte Ökosystem Erde ist gefährdet. Seit Beginn der Industrialisierung bedingt ein starker Anstieg von Treibhausgasen (z.B. durch Verbrennung fossiler Energieträger) ein Aufheizen der Atmosphäre, woran der Mensch besonders durch den Ausstoß von Kohlendioxid einen entscheidenden Beitrag leistet. Die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war wohl die wärmste 50-Jahres-Periode der letzten 500 Jahre, was sich an den höher werdenden Mitteltemperaturen ablesen lässt. Der anthropogene Treibhauseffekt zeigt sich durch Gletscherschmelzen, einen Anstieg der Meeresspiegel, Hitze- und Dürreperioden und extreme Wetterphänomene. Die Auseinandersetzungen rund um die globale Erderwärmung, Klimawandel, Umweltverschmutzung, den Raubbau an Flora und Fauna, der Schutz des Planeten Erde zählen zu den großen Konflikten unserer Zeit und dies haben viele Glaskünstler*innen thematisiert. Alle 7,8 Milliarden Menschen auf der Erde sind davon betroffen und in ihrer Verantwortung den Planet Erde auch durch politisches Umdenken und eigenverantwortliches Handeln zu schützen, miteinander verbunden. „Der Zusammenhalt aller Menschen – egal welcher Hautfarbe – initiiert eine Gruppendynamik, die die Menschheit im Umgang miteinander stabilisiert. Das Rad als tragendes Element.“ Schreibt Irene Bachauer zu ihrem Werk „Kohäsion“.
„Wir sehen die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Mit diesem Statement hat die Glaskünstlerin Ulrike Kaltenbach ihr Werk „Perspektiven“ (Nr. 46) versehen.
Im philosophischen Sinne ist der Blick auf Wirklichkeiten von Eigenschaften und Standpunkt des betrachtenden Individuums abhängig. Egal, ob auf Reisen oder zu Hause unterliegt das menschliche Handeln, Denken und Erkennen den Bedingungen von Raum und Zeit, der individuellen Situation, oder gesellschaftlich und kulturellen Gegebenheiten und dies bedingt die Sicht auf bestimmte Zusammenhänge. Beim Ansehen der sieben Glaskunstobjekte in der Gruppe Reisengrenzenlos kommt es auch auf den physischen Standpunkt des Betrachtenden an, je nach dem wo man steht bzw. woher man kommt, eröffnet sich ein anderer (Durch-)Blick, ein anderes Spiel von Licht, Farben, Schatten, Form und schickt die Gedanken auf eine grenzenlose Reise. Der Glaskünstler Ulrich Precht schreibt zu seinem Werk „Cube III“ (Nr. 79): „In dem Prozess dem Glas sein unendliches Spiel von Licht und Farbe zu entlocken, lernt man anders Sehen und Denken.“
„Not, Angst und Verfolgung zwingen heute Millionen von Menschen ihre Heimat zu verlassen. Sie begeben sich auf eine Reise voller Unsicherheit und Gefahren.“ Mit diesem Statement hat die Künstlerin Iris Haschek ihr Objekt „Medusa II“ (Nr. 34) versehen. Ein Rückblick in die Geschichte zeigt, dass es immer wieder Phasen von grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen gegeben hat. Angst, Not, Krisen aber auch Hoffnung auf ein besseres Leben haben Menschen immer wieder dazu bewegt die Heimat hinter sich zu lassen und sich auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben. So stieg z.B. zwischen den 1830er bis 1890er Jahren die transatlantische Migration von Europa nach „Übersee“ zu einer Massenbewegung an. In diesen Jahren wagten im Schnitt 1 Millionen Deutsche pro Jahr in Südamerika, Australien und besonders in den USA den Schritt in ein neues Leben. Auch das 20. Jahrhundert war geprägt von Flucht, Vertreibung und Migration. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg und nach dem zweiten Weltkrieg erlebte Europa eine weitere Hochphase der Auswanderung. Aber noch nie in der Geschichte waren so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht wie in den Jahren seit 2014.
Die 2019 von der UNHCR veröffentlichten Zahlen von Menschen auf der Flucht erreichten ein Rekordhoch: 70,8 Millionen Flüchtende und Migrierende wurden verzeichnet. Kriege, schwere Menschenrechtsverletzungen, gewaltsame Konflikte, wirtschaftliche Krisen, Vertreibung, Verfolgung, aber auch Natur- und Umweltkatastrophen sind die häufigsten Ursachen. Durchschnittlich fliehen täglich 37.000 Männer, Frauen und Kinder und setzen sich häufog auf den Fluchtrouten großen Gefahren aus. Zwischen 2014 und 2020 haben allein auf der Fluchtroute nach Europa über das Mittelmeer 20.000 Menschen den Tod gefunden. Die globale Flüchtlingskrise ist zu einem zentralen Thema unserer Zeit geworden, was die Werke der vier Künstler*innen, die sich mit Flucht und Migration beschäftigen, auf unterschiedlichste Art verarbeiten.
„Ist die Erde zufällig geschrumpft?“
„Zweifellos“, antwortete Gauthier Ralph. „Ich bin, wie Mr. Fogg der Meinung, dass die Erde kleiner geworden ist. Weil wir sie heute sechs Mal schneller bereisen können als vor hundert Jahren. [...]. „Ich muss zugeben, daß das eine amüsante These ist [...] weil man heutzutage in drei Monaten um die Erde reisen kann.“ „In achtzig Tagen“, verbesserte ihn Phileas Fogg. “ Als diese Passage aus Jules Vernes Roman „Reise um die Erde in 80 Tagen“ 1873 publiziert wurde, hat Verne keineswegs eine Zukunftsvision geschildert: eine Reise um die Erde in 80 Tagen war tatsächlich möglich geworden. Durch bahnbrechende Erfinndungen und Weiterentwicklung neuer Transportmittel wie Dampfschiff und Eisenbahn, sowie den systematischen Ausbau der dazugehörigen Infrastruktur entstand im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Netzwerk an Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen zwischen den Ländern und Kontinenten. Dies beschleunigte die Mobilität von Menschen, den Austausch von Handelsgütern und Knowhow und markiert einen Meilenstein auf dem Weg in eine moderne, globalisierte Welt. Bis heute zählt Vernes Roman zu den Klassikern der Weltliteratur. Die Reise des Phileas Fogg wurde zum Symbol für die durch technologischen Fortschritt verwandelte, vom Menschen erschlossene und zu bereisende „kleiner gewordene“ Welt. In Bewegung und auf Reisen waren die Menschen lange vor dem 19. Jahrhundert, auch spannten sich Handelsrouten und Verkehrsverbindungen weit über die Welt und vernetzten die Menschen miteinander. Dennoch hat sich die Art des Reisens, vor allem der Komfort, das Tempo, sowie die Beweggründe zu Reisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute grundlegend verändert. Spätestens seit der Erfindung von Autos und dem Ausbau des Luftverkehrs ist das Reisen noch einfacher und vor allem noch schneller geworden. Erholungs- und Urlaubsreisen, auch in ferne Ziele, etablierten sich zunehmend zu einem festen Bestandteil der Freizeitgestaltung. Und so entstand die Tourismusbranche als neuer Wirtschaftszweig. Die Glaskunstobjekte in der Gruppe „Welt-Reise“ zeugen von der Mobilität und Reisefreude der Glaskünstler*innen, die durch ihre Werke selbst erlebte Reisegeschichten aus der großen weiten Welt erzählen und die Besucher*innen mit nach Venedig, London, Myanmar, Japan oder ans Meer nehmen. „Reisen ist Erinnerungen machen. Für mich sind das die kleinen Objekte, die ich auf meinen Reisen finde, die beim Anschauen die Erinnerungen wieder lebendig werden lassen.“ Schreibt die Glaskünstlerin Rini Ronckers zu ihrem Objekt „Memories“ (Nr. 84).